Attendorn ist überall

Jahrelang wurde ein Mädchen von seiner Mutter von der Außenwelt isoliert – um den Kontakt zum Vater zu verhindern. So dramatisch der Einzelfall auch ist – Attendorn ist überall und Eltern-Kind-Entfremdung eine viel zu wenig beachtete Form des psychischen Kindesmissbrauchs an schutzbedürftigen Kindern.

Derzeit bewegt der Fall des achtjährigen Mädchens aus Attendorn, das von Mutter und Großeltern nahezu sein gesamtes bisheriges Leben von der Außenwelt abgeschirmt worden ist, die Republik. Nach bisherigen Erkenntnissen soll die Mutter 2015 verschwunden sein, nachdem dem Vater das gemeinsame Sorgerecht und auch das Umgangsrecht zugesprochen wurde, um widerrechtlich den Kontakt zwischen Tochter und Kind zu verhindern. Anstatt in Italien, wie von ihr angegeben, hielt sie sich mit dem Kind jahrelang im Haus der Großeltern in Attendorn auf und beraubte das Kind des Kontaktes zu seinem Vater. Es hatte weder Kindergarten noch Schule besucht, keine medizinische Versorgung und auch keinen Kontakt zu gleichaltrigen Kindern. Ob dies zu psychischen Beeinträchtigungen oder sonst zu Entwicklungsverzögerungen geführt hatte, wird nach Pressemitteilungen derzeit geprüft. Es gebe wohl weder Hinweise auf körperlichen Misshandlung oder Unterernährung. Darüber hinaus könne es lesen, rechnen und schreiben.

Dass Mütter, die das Sorgerecht mit den Vätern nicht gemeinsam ausüben und auch den Kindesumgang unterbinden wollen, Kinder, häufig auch ins Ausland, entführen, ist traurige Realität in Trennungsfamilien. Nach Mitteilung der Bundesregierung in der BT-Drucksache 19/17111 vom 11.02.2020 werden jedes Jahr Hunderte Kinder aus Deutschland ins Ausland entführt. 

Eine Besonderheit im Attendorner Fall besteht darin, dass die Mutter sich und das Mädchen zwar nach Italien abgemeldet hatte, tatsächlich aber in Attendorn geblieben ist. Ihr Ziel, nämlich den Kontakt des Kindes zum Vater zu unterbinden, ist ihr aber genauso gelungen, wie dies in den Fällen gelingt, in denen Kinder tatsächlich ins Ausland verbracht werden.

In diesem Fall wird jetzt von Staatsanwaltschaft Siegen ermittelt. Eltern-Kind-Entfremdung stellt aber auch in vielen tausend weiteren Fällen, in denen Kindern der Kontakt zu einem Elternteil und damit zu einer wichtigen Entwicklungsressource genommen wird, einen psychischen Missbrauch des Kindes und somit Gewalt gegen dieses dar. Dies wird in der kinderpsychologischen Wissenschaft als psychische Kindesmisshandlung gesehen (siehe "Notwendigkeit professioneller Intervention bei Eltern-Kind-Entfremdung", Zeitschrift Kindschaftsrecht & Jugendhilfe (ZKJ), Ausgaben Juli und August 2022), und stellt ebenfalls eine strafrechtlich relevante Misshandlung von Schutzbefohlenen dar. Strafrechtlich verfolgt wird dieser Missbrauch, der abseits der Schlagzeilen stattfindet, jedoch so gut wie nie.

Wie auch im Fall Attendorn schauen die Behörden bei Eltern-Kind-Entfremdung häufig nicht genau genug hin oder zu lange weg, wie unzählige Fälle, in die unsere Mitglieder als Mütter und Väter immer wieder involviert sind, zeigen. 

„Dem Unterbinden des Kontakts oder auch dem Wegzug des Kindes wird kaum Widerstand zum Schutz der Kinder durch Jugendamt oder Familiengericht entgegengesetzt“, erklärt Marcus Gnau, Jurist und Mitglied im Bundesvorstand des Väteraufbruch für Kinder e.V. Bezeichnend sei auch, dass in der Berichterstattung zwar von einer dem Kind fremden Pflegefamilie und Kontaktoptionen von Mutter und Großeltern, welche das Kind jahrelang widerrechtlich von der Außenwelt isolierten, gesprochen wird, aber bisher scheinbar noch niemand über eine Kontaktanbahnung zum Vater nachzudenken scheint.

„Attendorn ist überall“, so Gnau. „Der aktuelle Fall zeigt einmal mehr auf, welche grausamen Auswüchse der alltäglich zu beobachtende Umgangsboykott haben kann und wie wenig dem häufig entgegengesetzt wird. Behörden und Familienjustiz haben so etwas zu verhindern – und nicht nur dann, wenn Kinder Jahre lang weggesperrt worden sind.“