Ein wesentlicher Punkt dabei war die Gewalt in Beziehungen. Das Ergebnis lässt aufhorchen: Entgegen gängigen Annahmen sind demnach Frauen in Partnerschaft und Familie zwar „tendenziell häufiger Opfer“, aber auch „signifikant häufiger Täterinnen von körperlicher und psychischer Gewalt im häuslichen Bereich“.
Dabei seien die psychosozialen Charakteristika von Täterinnen und Tätern weit ähnlicher als vorher angenommen. Und Frauen erleben mehr psychische Gewalt durch den Partner – auch das widerspricht dem gängigen Klischee vom hauptsächlich prügelnden Mann.
Ein großer Aufschrei war die Folge. Warum? Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten sich eines anderen Instrumentariums bedient, als es in bisherigen Studien üblich war. „Genderunsensibel“ sei das, und „wissenschaftlich unzulänglich“, auch hätte das RKI ein „einseitiges Erkenntnisinteresse“, so Prof. Dr. Monika Schröttle. Solche Vorwürfe gehen über eine normale wissenschaftliche Auseinandersetzung weit hinaus. Ganz demokratisch veröffentlichte das RKI diese Stellungnahme auf seiner Webseite. Aber anstatt nun in eine Debatte einzusteigen entschuldigte es sich bußfertig für die Genderunsensibilität. Die Gegen-Stellungnahme der an der Studie beteiligten Forscherinnen und Forscher blieb jedoch unveröffentlicht.
Deutungshoheit über Gender und Gewalt
Warum wird hier eine Studie vom gesamten Netzwerk Frauen und Gesundheit einfach abqualifiziert? Üblicherweise stehen wissenschaftliche Methoden und Ergebnisse in einem Wettbewerb – mit dem Interesse, bestmögliche Erkenntnisse zu erzielen und aus der Debatte darüber weitere Ansätze für die Forschung und die Arbeit vor Ort zu gewinnen. Diese Chance wurde vertan. Offensichtlich geht es um etwas anderes als Forschungsergebnisse: Es geht um die Deutungshoheit bei allen Themen, die mit Gender und Gewalt zusammenhängen. Und die Ergebnisse von Studien rechtfertigen Fördertöpfe für die Arbeit mit Opfern.
Nun ist es nicht so, dass feministische Forschung nicht sehen würde, dass der größte Teil der Gewaltopfer Männer sind. Und Monika Schröttle weist immer wieder darauf hin, dass die Männlichkeitsvorstellungen der Gesellschaft und die verinnerlichten Bilder von Männlichkeit es den Opfern schwer machen, Hilfe zu suchen. Das ist sicher richtig. Aber auf diese Weise wird subtil das Täter-Opfer-Verhältnis umgekehrt: Nicht die schlagende Frau wird angeprangert, sondern das Männerbild des Opfers.
Frauen seien stärker und länger von den Auswirkungen von Gewalttaten betroffen als Männer, legten bis jetzt alle großen Untersuchungen nahe, insbesondere die nationale Studie zur Gewalt an Frauen, gefördert vom Bundesfamilienministerium. Die RKI-Studie zeigt ein etwas anderes Bild. Insbesondere wird deutlich, dass die Auswirkungen von Gewalt auf Männer bisher kaum erforscht sind. Gerade auch für die Prävention und die Therapie von männlichen Opfern lassen sich aus den bisherigen Studien nur wenige Erkenntnisse gewinnen.
Unterstützungsnetzwerke für Männer aufbauen
Eine offene und unvoreingenommene Diskussion über die RKI-Studie böte die Chance, endlich von geschlechterpolitischen Schuldzuschreibungen wegzukommen. Therapeuten und Pädagogen sprechen bei häuslicher Gewalt inzwischen kaum noch von Täter und Opfer, sondern von Gewaltbeziehungen und sogar Gewaltfamilien. Das bedeutet, dass innerhalb eines Beziehungskontextes ein Klima entsteht, das den Ausbruch körperlicher und psychischer Gewalt ermöglicht und sogar fördert. Ein solches Klima ist mit einfachen Täter-Opfer-Modellen nicht zu beschreiben – und erst recht nicht aufzulösen.
Jedes Gewaltopfer braucht Unterstützung. Völlig unabhängig vom Geschlecht. Viele Männer und Frauen brauchen zunächst einmal einen Ort, an dem sie Ruhe finden und sich über ihren weiteren Weg klar werden können. Solche Zufluchtstätten gibt es bisher fast nur für Frauen. Es ist absolut notwendig, ein entsprechendes Netz von Hilfs- und Beratungsangeboten für Männer aufzubauen und dauerhaft zu finanzieren. Alles andere würde nur bedeuten, den alten Mythos vom starken Geschlecht, dem so etwas nicht passiert, aufrechtzuerhalten.
Ralf Ruhl