Entscheidung der deutschen Gerichte über Umgangsrecht eines Vaters mit seinem mutmaßlichen Sohn hätte Kindeswohlinteresse berücksichtigen sollen

In seinem heute verkündeten Kammerurteil im Verfahren Schneider gegen Deutschland, stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einstimmig fest, dass eine Verletzung von Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorlag.

Der Fall betraf die Weigerung der deutschen Gerichte, dem Beschwerdeführer Umgang mit seinem mutmaßlichen leiblichen Sohn zu gewähren, dessen rechtlicher Vater der Ehemann der Kindesmutter ist.

 

Entscheidung des Gerichtshofs

Artikel 8

Der Gerichtshof befand, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte, Herrn Schneider Umgang mit seinem mutmaßlichen Sohn F. und Auskunft über dessenpersönliche Verhältnisse zu verwehren, einen Eingriff in seine Rechte aus Artikel 8 darstellten. Da seine biologische Vaterschaft nicht nachgewiesen war und nie eine enge persönliche Bindung zwischen ihm und dem Kind bestanden hatte, gab es zwar kein bestehendes "Familienleben". Dieser Umstand war Herrn Schneider aber nicht anzulasten. In Anwendung der maßgeblichen Bestimmungen des BGB hatten die deutschen Gerichte seine Vaterschaftsanerkennung für nicht wirksam erklärt, da Herrn H.'s Vaterschaft gelte. Eine gesonderte Anfechtungsklage gemäß § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB - die Herr Schneider nach Auffassung der deutschen Regierung hätte anstrengen können - wäre auf Grundlage des geltenden Rechts zum Scheitern verurteilt gewesen.

Überdies hätte ein solches Verfahren darauf abgezielt, als rechtlicher Vater anerkannt zu werden, ein weitreichenderes Ziel als die Absicht Herrn Schneiders, seine biologische Vaterschaft für die Ausübung eines Umgangsrechts mit dem Kind feststellen zu lassen.

Auch wenn Herr Schneider und Frau H. nicht zusammengelebt hatten, war unbestritten, dass ihre ein Jahr und vier Monate dauernde Beziehung nicht bloß zufällig gewesen war. Herr Schneider hatte sein Interesse an F. hinlänglich deutlich gemacht, indem er das Kind gemeinsam mit Frau H. plante, sie zu ärztlichen Untersuchungen begleitete und die Vaterschaft noch vor der Geburt anerkannte. Der Gerichtshof schloss folglich nicht aus, dass Herrn Schneiders Absicht, eine Beziehung zu dem Kind aufzubauen, in den Geltungsbereich des "Familienlebens" gemäß Artikel 8 fiel. Selbst wenn die Frage, ob Herr Schneider ein Umgangs- und Auskunftsrecht beanspruchen konnte, nicht als "Familienleben" gelten konnte, so betraf sie aber in jedem Fall einen wichtigen Teil seiner Identität und folglich sein "Privatleben" im Sinne von Artikel 8. Im Hinblick auf die Frage, ob der Eingriff in Herrn Schneiders Rechte gerechtfertigt war, nahm der Gerichtshof zur Kenntnis, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte mit den maßgeblichen Bestimmungen des deutschen BGB in Einklang standen. Weiter zielten sie darauf ab, die Interessen des Ehepaares sowie der während der Ehe geborenen Kinder, die bei ihm lebten, zu schützen.

Die deutschen Gerichte hatten Herrn Schneider Umgang mit seinem mutmaßlichen Sohn und Auskunft über dessen persönliche Verhältnisse aber verwehrt, ohne zu untersuchen, ob ein solches Umgangs- und Auskunftsrecht unter den besonderen Umständen des Falls im Kindeswohlinteresse läge oder ob die Interessen Herrn Schneiders als denjenigen der rechtlichen Eltern übergeordnet angesehen werden müssten. Der Gerichtshof bezog sich auf einen ähnlichen Fall, der die Weigerung der deutschen Gerichte betraf, einem Vater Umgang mit seinen Kindern zu gewähren, die bei ihrer Mutter und deren Ehemann lebten, ohne dabei zu berücksichtigen, ob Kontakte zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Kindern in deren Interesse läge. In dem Fall war der Gerichtshof zu dem Schluss gekommen, dass die deutschen Gerichte keine gerechte Abwägung der konkurrierenden Interessen vorgenommen hatten. In Herrn Schneiders Fall war zwar nicht nachgewiesen, ob er tatsächlich der biologische Vater des fraglichen Kindes ist, dieser Unterschied war für die Entscheidungen der Gerichte aber unerheblich. Sie waren für ihre Erwägungen von seiner Vaterschaft ausgegangen und hatten seinen Antrag abgelehnt, weil er nicht der rechtliche Vater des Kindes war und keine sozial-familiäre Bindung mit ihm bestand. In beiden Fällen waren die Gründe, warum der (mutmaßliche) biologische Vater keine Beziehung mit dem betroffenen Kind bzw. den Kindern aufgebaut hatte, für die Schlussfolgerungen der deutschen Gerichte unerheblich gewesen. Folglich hatten sie dem Umstand, dass der jeweilige Beschwerdeführer aus rechtlichen und praktischen Gründen nicht in der Lage war, die Beziehung zu den Kindern zu beeinflussen, keinerlei Bedeutung beigemessen.

Der Gerichtshof unterstrich, dass es Aufgabe der nationalen Gerichte ist - die mit allen Beteiligten in direktem Kontakt stehen - festzustellen, ob Kontakte zwischen einem biologischen Vater und seinem Kind in dessen Interesse liegen oder nicht. Allerdings war der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass das Interesse von Kindern, die bei ihrem rechtlichen Vater leben, aber einen anderen biologischen Vater haben, tatsächlich mit Hilfe einer allgemeinen rechtlichen Vermutung ermittelt werden kann. In Anbetracht der großen Vielfalt möglicherweise betroffener Familienkonstellationen erfordert die gerechte Abwägung der Rechte aller Beteiligten eine Untersuchung der besonderen Umstände des Falls. In Herrn Schneiders Fall hatten die deutschen Gerichte keine solche Untersuchung vorgenommen. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 8 vor.

Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14

Im Hinblick auf seine Schlussfolgerungen unter Artikel 8 sah es der Gerichtshof nicht als notwendig an, darüber zu befinden, ob die Entscheidungen der deutschen Gerichte Herrn Schneider unter Verstoß gegen Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 diskriminiert hatten.

Artikel 41

Gemäß Artikel 41 (gerechte Entschädigung) entschied der Gerichtshof, dass Deutschland Herrn Schneider 5.000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden und 10.000 Euro für die entstandenen Kosten zu zahlen hat.